Auf Stern TV lief am 22. Mai 2019 ein Beitrag zum Thema „Gewalt im Kreißsaal“, in welchem Hebammen/-Schülerinnen und Mütter zu Wort kamen, die Gewalt in der Geburtshilfe erleiden mussten. Im Talk danach sprach ich als Autorin von „Gewalt unter der Geburt“ mit Prof. Abou-Dakn, Chefarzt aus Berlin. Dieser stellte die Frage:
An welchem Punkt fängt die Gewalt an
und wo ist sie noch als Normalität zu sehen?
Wenn deutsche Chefärzte in der Geburtshilfe nicht wissen was Gewalt und Körperverletzung sind, können sich die skandalösen Verhältnisse nicht ändern. Aufklärung tut Not! Ein Versuch.
Sind wir noch sicher?
Mit seiner Frage hat Prof. Abou-Dakn die Ursachen für Gewalt gegen Gebärende im Kern getroffen! Viele (Chef-)Ärzt*innen, Ärzt*innen und Hebammen wissen nicht was Gewalt eigentlich ist, wo Körperverletzung anfängt, wo sie aufhört und was in unserem Land als Straftat gilt oder ob Straftaten zur Normalität gehören.
Solange die Geburtshilfe in den Händen dieser Menschen liegt, solange dürften sie zu unserer aller Sicherheit kein Skalpell und keine Gebärende mehr in die Finger bekommen!
In der Sendung reichte die Zeit leider nicht aus, die Frage in der nötigen Tiefe zu beantworten, damit auch Chefärzt*innen ohne jegliche Vorkenntnisse bezüglich Menschenrechte und Rechtssystem ein Verständnis für Gewalt und Patientinnenrechtsverletzungen bekommen.
Daher möchte ich hier versuchen, der unfassbar schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, die Frage zu klären: „Was heißt hier Gewalt?“
1. Grundvoraussetzung: „Gleichberechtigung“
Zunächst müssen wir uns auf einige Haltungen einigen, ohne die der Gewalt-Begriff nicht verstanden werden kann. Zunächst einmal wäre das der Artikel 3 aus dem Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Frauen verfügen über dieselben Rechte wie Männer. Ihre Rechte stehen denen von Männern in nichts nach. Frauenrechte sind Menschenrechte.
2. Grundvoraussetzung: „Selbstbestimmung“
Es gibt Patientinnenrechte. Das bedeutet, dass Frauen über ihren Körper selbst bestimmen dürfen. Sie treffen nicht die Entscheidungen für ihre Nachbarin und auch nicht die für ihren Chefarzt. Aber sie treffen sämtliche Entscheidungen, die medizinische Behandlungen an ihrem eigenen Körper betreffen.
Frauen haben das Recht auf Unversehrtheit. Niemand hat das Recht, ihren Körper zu verletzen, für sie stellvertretend zu entscheiden oder ohne Zustimmung etwas mit ihnen zu machen was sie nicht wollen. Genauso darf umgekehrt die Gebärende auch nicht entscheiden, dass der Chefarzt gegen seinen Willen operiert wird.
3. Grundvoraussetzung: „Medizinische Indikation“
Ein Eingriff darf nur dann erfolgen, wenn eine medizinische Indikation vorliegt. Meine Gynäkologin darf mir nicht einfach mein Ohr abschneiden, weil ihr eines in ihrer Sammlung von Körperteilen fehlt!
Wird bei der Aufklärung eine medizinische Indikation behauptet (z.B. wenn Dr. Josef sagt: „Liebe Frau Meyer, die Herztöne des Babys sind schlecht, deshalb machen wir jetzt eine Sectio.“), dann muss diese natürlich auch stimmen. Findet Frau Meyer hinterher heraus, dass Dr. Josef sie belogen hat und die Herztöne prima waren laut CTG-Aufzeichnungen, sprechen wir vor Gericht über Nötigung und schwere Körperverletzung weiter.
4. Grundvoraussetzung: „Aufklärungspflicht“
Aufklärung ist in der Medizin in jedem Bereich das A & O. Warum? Nun, wenn der Arzt/die Ärztin mir nur sagt: „Wir schneiden jetzt am besten ihr Knie auf, weil das voll gut ist.“ Dann könnte ich einen falschen Eindruck von der Knie-OP bekommen, ihr nur zustimmen, weil der Arzt/die Ärztin mich mit falschen Informationen geködert hat oder umgekehrt mir mit Fehlinformationen abgeraten hat.
Eine Zustimmung zu einem Eingriff in den Körper eines Menschen von medizinischem oder geburtshilflichem Personal ist also auch nur dann rechtswirksam und damit keine Körperverletzung, wenn der/die Behandelnde die Frau nach bestem Wissen und Gewissen aufgeklärt hat.
Aufgeklärt werden muss laut § 630e BGB über „Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten.“
Wenn mehrere Methoden „zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken und Heilungschancen führen können“, muss außerdem über Alternativen aufgeklärt werden!
Die Aufklärung muss (rechtzeitig) der Entscheidung vorausgehen, damit die Zustimmung anerkannt wird und ein Eingriff keine Körperverletzung darstellt. Das sind absolute Basics für geburtshilfliches Personal. Wie können Mediziner*innen eine Zulassung erhalten und behalten, ohne ihre Aufklärungspflicht zu kennen? Mysteriös.
5. Grundvoraussetzung: “Männlicher Gebärneid“
Wir sind uns bewusst darüber, dass nur Frauen und Menschen mit Uterus Kinder bekommen können. Dass wir im Patriarchat leben, hat sehr viel mit dieser Tatsache zu tun. Denn eine treibende Kraft des Patriarchats und der Unterdrückung und Entrechtung von Frauen, ist der Gebärneid vieler Männer.
Dadurch ist die Selbstbestimmung der Frauen aus Punkt 2 seit Tausenden von Jahren patriarchalen Angriffen ausgesetzt. Aus Neid auf die einzigartige Funktion der Gebärmutter, auf dieses Alleinstellungsmerkmal, streben viele Männer danach, sich diese Funktion anzueignen, sie unter Kontrolle zu bekommen und Macht über weibliche Gebär- und Fortpflanzungsfunktionen und Geschlechtsteile zu erlangen.
Beispiele dafür sind die Übergriffe von Männern auf die weibliche Sexualität in Form von Missbrauch, sexueller Belästigung, Nötigung, Vergewaltigung, Prostitution, frauenfeindlicher Pornografie etc. Hier geht es darum, zu bestimmen wann und wie, wie oft und mit wem Frauen Sex haben dürfen.
Außerdem soll den Frauen keine Selbstbestimmung zugestanden werden bei der Frage, ob, wann, wie lange und wie oft sie schwanger sein möchten. Die Frage nach Austragung der Schwangerschaft oder der Abtreibung soll ebenfalls von anderen getroffen werden.
Und letztlich geht es um die Übergriffe auf die Selbstbestimmung in der Geburtshilfe, wo Männer und einige patriarchale Jüngerinnen entscheiden wollen, wann, wie, wo, mit wem und wie lange eine Frau ihr Kind gebiert.
Sogar die Gebärfunktion selbst wollen sich viele Männer über die Sprache einverleiben. So ist es sprachlich akzeptiert, wenn ein Arzt sagt, er hätte 2000 Kinder entbunden. Die Frau tritt in dieser Konstellation völlig zurück. Es scheint als wären Arzt und Kind allein zugegen gewesen bei der Geburt.
Der Arzt tritt als Macher auf, die Mutter ist gar nicht mehr zu sehen in diesem sprachlichen Szenario, das Macht über die Bilder und Gedanken in unseren Köpfen hat.
Wir sehen also: auch die Debatten um §218 und §219 zur Abtreibungsfrage stehen in engem Zusammenhang mit der Gewalt in der Geburtshilfe! Es geht um Angriffe auf die weibliche Selbstbestimmung über ihre Gebärmutter.
ACHTUNG: die komplex-komplizierte, hochanspruchsvolle, schwer verständliche Definition
Nachdem diese Haltungen und Voraussetzungen zum Verständnis geklärt wären, möchte ich nun sehr genau erläutern was Gewalt in der Geburtshilfe ist: Gewalt ist Gewalt.
So einfach.
Sie ist in der Geburtshilfe nichts anderes als in der Inneren, beim HNO-Arzt oder am Kiosk an der Straßenecke.
Körperverletzung ist Gewalt.
Medizinische Eingriffe…
…ohne medizinische Indikation sind (schwere) Körperverletzungen.
…ohne Aufklärung sind (schwere) Körperverletzungen.
…mit unzureichenden, fehlerhaften oder nötigenden Aufklärungen sind (schwere) Körperverletzungen.
…mit oder ohne Aufklärung, die abgelehnt werden, sind (schwere) Körperverletzungen.
Wenn eine Gebärende schreit „Nein“, „Halt nicht“, „Hören Sie auf“ oder wenn auch nur anzunehmen ist, dass sie das mit ihren Schreien ausdrücken will, dann ist jeder dennoch durchgeführte Eingriff Gewalt!
Nein heißt Nein – auch im Kreißsaal! Muss das wirklich erwähnt werden? Offenbar.
Ein paar Beispiele für inakzeptable Aufklärungen?
„Wenn wir A nicht machen, stirbt hier wer!“
„Sie stimmen jetzt zu, sonst schicken wir Sie unter Wehen raus in den Schneesturm!“
„Wenn Sie nicht zustimmen, sorge ich schon dafür, dass Sie es bereuen.“
„Sie haben das nicht zu entscheiden. Wir machen das jetzt.“
„Wenn Sie nicht zustimmen, hätten sie besser gleich abgetrieben.“
„Der Eingriff muss gemacht werden.“
„Wenn Sie nicht zustimmen, lassen wir sie hier allein in ihrem Dreck liegen.“
„Die Sectio muss sein, weil sie gemacht werden muss!“
„Wenn Sie nicht zustimmen, sterben Sie.“
„Hören Sie auf zu diskutieren.“
„Ich gebe Ihnen Vitamine, die gut für Ihr Kind sind.“ [es war ein umstrittenes Wehenmittel]
„Wir machen jetzt eine Sectio/Dammschnitt bei Ihrer Frau.“
„Ich helfe Ihnen mal kurz.“
Zur Hebammenschülerin: „Keine Indikation? Egal, mach den Eingriff, musst ihn ja üben.“
Liebes geburtshilfliche Personal, liebe Ärzt*innen,
Sie wissen nach wie vor nicht was Gewalt ist? Dann gehen Sie zurück auf „Los“ und ziehen keine 300.000 EUR ein!* Dieser Text hat Sie überfordert? Dann warten Sie mal Teil 2 ab…zur psychischen Gewalt. Da schnallen Sie ab!
Liebe Schwangere, liebe Frau mit Kinderwunsch,
Du willst Dich schützen. Völlig verständlich! Ich rate: nimm Dich selbst ernst, sei selbstbestimmt und eigenverantwortlich, kenn Deine Rechte! Informationsabende von Kliniken oder TV-Sendungen mit Chefärzt*innen sind Werbeveranstaltungen. Sonst nichts. Fall nicht auf schöne Worte rein! Bleib bei Dir.
Lass Dich nicht verängstigen oder von einer außerklinischen Geburt oder von Deinen Rechten von jemandem abbringen, der mit Euren Ängsten Millionen verdient. Wenn jemand nicht weiß, wann er/sie Dir unter der Geburt Gewalt antut, sollte das alarmierend genug sein!
Wenn geburtshilfliches Personal, das bei der Tat nicht dabei war, zu Gewaltopfern sagt: Das kann ich nicht glauben, dass Sie Gewalt erlebt haben. Dann ist das keine vertrauenswürdige oder traumasensible Person, in dessen Hände Du Dich unter der Geburt begeben möchtest!